Lehren aus der Pandemie

Durch den zeitlich vorgelagerten COVID-19-Ausbruch in China hatte Volkswagen einen Wissensvorsprung: Wie fährt man eine Produktion geordnet wieder hoch? Inzwischen ist der Konzern mit seinem 100-Punkte-Plan ein echtes Best-Practice-Beispiel. Gunnar Kilian, Personalvorstand der Volkswagen AG, gibt Einblicke, wie der Konzern mit der Krise umgeht, welche Rolle HR hier spielt und wie sich der Personalbereich weiter entwickeln wird.

Die letzten sechs bis acht Wochen waren für HR vor allem von operativen Themen rund um COVID-19 geprägt. Hierbei standen Sicherheit und Gesundheit der Belegschaft, Virtualisierung und Digitalisierung der Arbeitsprozesse sowie abhängig von der Branche kapazitive Anpassungen im Vordergrund.

  • Wie unerwartet war das Ausmaß der Pandemie trotz Ihrer Vorerfahrungen aus China?
  • Wie unterschiedlich mussten Reaktionen je nach Marke, Land und Funktion ausfallen und wo konnten Sie innerbetrieblich einheitlich vorgehen?
  • Was haben Sie in dieser Phase gelernt in Bezug auf
    • Flexibilität von Mitarbeitenden, Führungskräften und Entscheidungsgremien?
    • bereichsübergreifende Zusammenarbeit bei der Suche nach kurzfristigen Lösungen?
    • Aufstellung der HR-Funktion in Bezug auf derartige Krisen?

Gunnar Killian: Die Schnelligkeit, mit der Corona über Deutschland und Europa hereingebrochen ist, hat uns natürlich alle vor große Herausforderungen gestellt. Aber Sie haben Recht: Durch den zeitlichen Vorlauf der Pandemie-Entwicklung in China hatten wir den entscheidenden Vorteil, sowohl den Lockdown als auch das erneute Hochfahren unserer Werke schon einmal komplett durchexerziert zu haben. Dadurch haben wir elementare Erkenntnisse gewonnen, die sehr dabei geholfen haben, auch in anderen Erdteilen ein geordnetes Vorgehen abzusichern. Die Vorgehensweisen dafür waren und sind überall auf der Welt ähnlich – auch wenn natürlich nationale Besonderheiten beachtet werden mussten.

Die deutsche Kurzarbeit zum Beispiel hat sich aus meiner Sicht erneut als das beste Mittel erwiesen, mit einer arbeitsmarktpolitischen Großstörung umzugehen. Deswegen konnten wir ja auch beobachten, dass viele Regierungen rund um den Erdball in Windeseile vergleichbare Regelungen getroffen haben. Was das Verhalten unserer Mitarbeitenden angeht, kann ich nur sagen, dass ich voller Dankbarkeit bin. Unsere sehr konsequenten Maßnahmen wurden überall akzeptiert und befolgt. Auch der Wiederanlauf ist von großer Disziplin geprägt.

Eine Bewertung der Effizienz und Effektivität unseres Krisenmanagements kann ich selbst nur schwer vornehmen, da ich ja gemeinsam mit meinen Vorstandskollegen Frank Witter den Krisenstab von Volkswagen leite. Ich kann nur sagen: Wir alle machen diese Arbeit mit größter Konzentration und Ernsthaftigkeit. Und hinzufügen könnte ich noch: In keinem einzigen der 125 Volkswagen-Werke weltweit hat es einen größeren Pandemie-Ausbruch gegeben. Zudem waren wir schon wenige Wochen nach Beginn der Krise in der Lage, die öffentliche Gesundheitsversorgung und damit die herausragende Arbeit der Ärzt:innen und des Pflegepersonals zu unterstützen. Etwa durch unser 40-Millionen-Euro-Hilfspaket oder die bezahlte Freistellung unserer medizinisch geschulten Kolleg*innen für einen freiwilligen Einsatz im Kampf gegen das Virus.

Mit Blick auf die HR-Funktionen in den Unternehmen scheint mir eindeutig, dass hier in den vergangenen Wochen und Monaten eine klare Aufwertung erfolgt ist – in erster Linie natürlich da, wo Personaler:innen in den Krisenstäben sitzen oder sie leiten, aber auch darüber hinaus. Schließlich geht es bei Lockdown, Gesundheitsschutz und Wiederhochfahren ganz zentral um Menschen- und Organisationsthemen.

In den nächsten drei bis neun Monaten wird es bei VW wie in vielen Unternehmen um das Wiederhochfahren des Betriebs unter weiterhin restriktiven Rahmenbedingungen gehen. Dabei werden die Themen auf der Personalseite vor allem darum kreisen, mit welcher Logik und in welcher Reihenfolge Mitarbeitende wieder an den Arbeitsplatz zurückgeführt werden können, welche mittelfristigen Schutzmaßnahmen greifen, aber auch, wie Führungskräfte befähigt werden, in der weiterhin andauernden Situation Sicherheit und Orientierung zu geben.

  • In welcher Logik planen Sie die Wiederaufnahme des Betriebs und welche personalseitigen Faktoren spielten für Ihre Entscheidung die größte Rolle?
  • Wie gehen Sie mit der aktuellen Unsicherheit um – gibt es bestimmte Szenarien, die Sie aus HR-Sicht planen?
  • Wie unterstützen Sie konkret Führungskräfte, damit diese in den nächsten Monaten noch besser mit der Situation umgehen können?

Gunnar Killian: Die Erfahrungen der vergangenen Wochen, in denen wir schrittweise unsere Produktion hochgefahren haben, zeigen uns: Volkswagen hat sich im Vorfeld des Wiederhochfahrens mehr als gut aufgestellt. Auch wenn es in einigen Ländern leichte Abweichungen geben mag: Wir haben alle Arbeitsplätze in Rot, Gelb und Grün geclustert. So muss im roten Bereich, in dem Mindestabstände trotz größter Bemühungen aus arbeitstechnischen Gründen nicht eingehalten werden können, mit einem Mund-Nasen-Schutz gearbeitet werden. Wir teilen zudem den Weg zurück in die Normalität überall in drei Phasen auf. Wir haben ein Handbuch mit rund 100 zu befolgenden Schutzmaßnahmen erstellt und global verteilt. Dieses gilt mittlerweile auch bei unseren Zulieferern und in vielen anderen Betrieben als State of the Art.

Wie es nun weitergeht, hängt natürlich maßgeblich vom weiteren Verlauf der Krise ab. Priorität hat der Gesundheitsschutz unserer Mannschaft. Darüber hinaus ist es das Ziel, die Produktion parallel zum Anspringen der Nachfrage hochzufahren, bis wir wieder auf gewohntem Niveau sind. Der Schutz der Beschäftigten hat, wie beschrieben, allemal Vorrang, aber auch unser wirtschaftliches Fundament ist natürlich ein hohes Gut. Alle personalpolitischen Entscheidungen der kommenden Wochen und Monate werden sich zwischen diesen beiden Polen abspielen.

Damit sind wir auch beim Thema Unsicherheit: Da niemand die exakte Entwicklung voraussagen kann, müssen wir auf verschiedene Optionen eingestellt sein. Zum Glück haben wir überall in unseren Tarifverträgen Flexibilitätsinstrumente verankert, die uns Luft verschaffen, um in den Fabriken personell zu „atmen“.

In 9–18 Monaten wird sich ein „New Normal“ einstellen und es stellt sich die Frage: Was bleibt von der COVID19-Krise? Wie haben sich Unternehmen strukturell verändert? Wo hat Digitalisierung beschleunigt Einzug gehalten? Was ist mit Einstellung und Präferenzen von Konsumenten und Mitarbeitenden passiert? Und am wichtigsten: Ist die Organisation gestärkter und resilienter aus der Krise hervorgegangen? Die Unternehmensrealität und auch die HR-Realität könnte dauerhaft verändert sein. Während die Finanzmarktkrise 2008/09 v. a. den CFO forderte, ist es diesmal der CHRO, der u. E. nach im Mittelpunkt steht.

  • Wird sich bei Volkswagen die Rolle der HR-Funktion durch die Krise nachhaltig verändern?
  • Was werden die drei Dinge sein, die von Corona bei Volkswagen bleiben werden (und die Sie auch behalten möchten)? Welche Dinge werden eher temporärer Natur sein?
  • Was ist die eine Sache, die Sie anderen Personalvorständen und CHROs mitgeben würden?

Gunnar Killian: Also, was den ersten Punkt angeht, so hoffe ich, möglichst bald in meinen regulären Job zurückkehren zu können, denn zur Zeit ist es sehr anstrengend. Zu den bleibenden Dingen von Corona gehört sicherlich die Erfahrung der Verletzlichkeit unserer modernen Welt. Uns war immer klar, dass ein globales Produktionsnetzwerk fragil sein kann. Aber mit einer solchen handstreichartigen Stilllegung hatte wohl niemand gerechnet. Gleichzeitig sind aber auch die Vorteile einer globalen Ausrichtung deutlich geworden. In China etwa sehen wir deutliche Zeichen der Erholung, während wir in Europa und den USA gerade versuchen, die Wirtschaft wieder in Gang zu bekommen. Inwieweit dies zu einer Diskussion um neue Formen der Unternehmensorganisation oder der Ausgestaltung von Arbeit führt, bleibt abzuwarten. Dezentralisierung und größtmögliche Autonomie von Teilbereichen sind auf jeden Fall keine falschen Rezepte.

Die sicherlich größten Veränderungen werden wir im Bereich der bürogebundenen Wissensarbeit haben. Millionen von Wissensarbeite:innen haben seit Mitte März 2020 aus dem Home Office gearbeitet. Dienste wie Skype, Microsoft Teams und andere digitale Kollaborationstools wurden quasi über Nacht zum bevorzugten Arbeitsmittel der Wissensarbeiter:innen. Corona hat damit der Digitalisierung der Büroarbeit zum Durchbruch verholfen und zu einem Quantensprung in der digital literacy der deutschen Arbeitnehmer:innen geführt. Wir haben diese Entwicklung gerade im Personalressort der Volkswagen AG mit einer eigenen Studie zu „Home-Office, virtueller Führung und Zusammenarbeit zu Zeiten von COVID-19“ näher durchleuchtet. An der Studie haben sich 1.000 Kolleg:innen beteiligt und der Tenor war einhellig: Mobiles Arbeiten hat in der Krise gut funktioniert. Dass sich die Entwicklung „nach Corona“ zurückdrehen und in die alte Präsenzkultur überführen lässt, erscheint unwahrscheinlich und wäre auch schwer vermittelbar. Nicht nur werden vor allem junge Eltern auch weiterhin massive Betreuungsprobleme haben: Viele Beschäftigte haben in der Krise bemerkt, dass es sich von zu Hause in mancherlei Hinsicht einfacher und auch produktiver arbeiten lässt. 

Die Wochen und Monate des Home Office hatten und haben freilich auch ihre Kehrseite: Der Wegfall des stabilisierenden Kolleg:innen-Kontakts und daraus folgend soziale Isolation, die vor allem von jüngeren Beschäftigten, den Millenials, als belastend empfunden wurden. Diese Generation von Arbeitnehmer:innen ist inmitten einer zehnjährigen Ausnahme-Konjunktur auf den Arbeitsmarkt eingetreten, war umworben und konnte bislang viele Freiräume im Berufsleben nutzen. Nun erlebt diese Kohorte ihre erste schwere konjunkturelle Krise und es wird interessant sein, zu beobachten, wie sie sich damit arrangiert. Die Einsamkeits- und Zuwendungssignale, welche viele Millenials in der Corona-Zeit ausgesandt haben, haben nicht nur das klassische manageriale Verständnis von Führung transformiert – diese Signale zeigen auch, dass sich viele der Millenials auf die Robustheiten der Arbeitswelt erst noch vorbereiten müssen.

Was nun zu guter Letzt meinen Rat an die Kolleg:innen angeht, bin ich versucht, mit einem Zitat von Willy Brandt zu antworten: „Nichts kommt von selbst. Und nur wenig ist von Dauer. Darum – besinnt Euch auf Eure Kraft und darauf, dass jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll.“

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