
Fehlerkultur in Organisationen:
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Kaum eine Kulturtransformation, Innovationsstrategie oder Top-Team-Retrospektive kommt heute noch ohne das Thema Fehlerkultur aus. In vielen Organisationen ist sie zum wiederkehrenden Schlüsselbegriff und zentralen Bestandteil der New Work geworden – und doch bleibt ihre Umsetzung oft vage oder ambivalent.
Drei Beispiele aus DAX-40-Unternehmen zeigen, wie präsent das Thema geworden ist:
- Für die Umsetzung der neuen Unternehmensstrategie hielt das Top Management Fehlerkultur für das zentrale kulturelle Handlungsfeld.
- In neuen Leadership-Prinzipien wurde Fehlerkultur mit doppelten Verhaltensankern versehen („learn from mistakes“, „learn from failures“).
- Beim Carve-out eines Geschäftsfelds wurde Fehlerkultur als Ermöglicher für mehr Geschwindigkeit eingefordert.
Trotzdem erleben wir in der Praxis, dass sich viele Unternehmen schwertun, Fehlerkultur konkret umzusetzen.
Der EY Fehlerkultur Report 2023 etwa hat gezeigt, dass zwei Drittel der Führungskräfte angeben, Fehler in der Vergangenheit nicht oder nur teilweise angesprochen haben – zugleich aber über die Hälfte dieser Führungskräfte die fehlende Fehlerkultur als Risiko für die Wettbewerbsfähigkeit ihres Unternehmens ansehen.
Warum ist das "Failen" so schwer?
Ein Grund liegt bereits in der Sprache: Während das englische Wort „failure“ im unternehmerischen Kontext oft neutral oder sogar konstruktiv konnotiert ist, steht das deutsche Wort „Versagen“ ungleich schärfer im Raum. Jack Lemmons Satz „Failure seldom stops you. What stops you, is fear of failure“ klingt im Deutschen schon ganz anders.
Hinzu kommt:
- Post-heroische Narrative sind in der Literatur häufiger als im gelebten Führungsalltag: In Vorständen wird oft noch mit harten Bandagen gearbeitet, statt Fehler als Teil der Lernreise zu betrachten.
- Manche Führungskräfte halten es weiterhin mit Bismarck: „Nur ein Narr lernt aus eigenen Fehlern, der Kluge lernt aus den Fehlern der anderen.“
- In vielen White-Collar-Bereichen sind Fehler Anlass für Tadel, nicht für Wertschätzung – eine Feedback-Logik, die eine positive Fehlerkultur untergräbt.
- In Blue-Collar-Kontexten werden raue Töne oder robuste Reaktionen häufig mit Sicherheitsrisiken oder kulturellen Unterschieden gerechtfertigt.
Erfolgsfaktoren für eine konstruktive Fehlerkultur
Die Fehlerkultur in Unternehmen ist ein komplexer Prozess, der von zahlreichen Faktoren beeinflusst wird. Dabei spielen auch externe Beispiele eine wichtige Rolle. Hier werfen wir einen Blick auf innovative Ansätze und erfolgreiche Implementierungen in verschiedenen lernenden Organisationen:
Google: Blameless Postmortem
Google hat mit der „Blameless Postmortem“-Analyse eine fehlerfreundliche Kultur etabliert, die keine Schuldzuweisungen kennt. Ziel ist es, aus Fehlern zu lernen und kontinuierliche Verbesserungen zu erzielen. Indem Fehler nicht als individuelle Misserfolge, sondern als Chancen zur Systemverbesserung betrachtet werden, wird eine resilientere Arbeitsweise ermöglicht.
Microsoft: Growth Mindset
Unter Satya Nadella etablierte Microsoft eine Growth Mindset-Kultur, die Fehler als Teil des Lernprozesses betrachtet. Fehler werden regelmäßig in Post-Mortem-Analysen evaluiert, um daraus zu lernen. Diese Kultur fördert Innovation und kontinuierliches Lernen.
Amazon: Fehler als Lernchance
Amazon ermutigt seine Mitarbeitenden durch das „Just Do It“-Award-System und das kontinuierliche Lernen durch das „Connections“-Feedbacksystem. In der „Forte“-Review fokussiert Amazon auf individuelle Stärken und Lernpotenziale, nicht auf Fehler.
McKinsey: Capability Building
Laut McKinsey sind Fehler als Lernchancen unerlässlich, insbesondere in sicheren Umgebungen. Capability Centers ermöglichen das risikofreie Testen neuer Arbeitsweisen und Technologien, wobei psychologische Sicherheit eine zentrale Rolle spielt.
Warum Fehlerkultur zählt – gerade heute
Trotz stagnierender Google-Suchanfragen zum Begriff ist der Bedarf an gelebter Fehlerkultur größer denn je. Organisationen, die offen mit Fehlern umgehen, lernen schneller, vermeiden Wiederholungen und stärken Vertrauen und Innovationskraft.
Doch: Fehlerkultur ist kein Selbstläufer. Sie muss aufgebaut, begleitet – und vor allem kontinuierlich kulturell vorgelebt werden.
Unsere Erfahrung zeigt: Auf folgende zentrale Hebel kommt es an, um Fehlerkultur wirksam zu verankern.
Zehn zentrale Hebel für eine konstruktive Fehlerkultur
1. Unterschiedliche Verständnisse klären
Fehlerkultur ist nicht gleich Fehlerkultur. Für die einen bedeutet sie: Fehler offen zugeben. Für andere: Aus Fehlern lernen. Wieder andere sehen darin die Grundlage für kontinuierliche Lernkultur. Eine gemeinsame Sprache ist Voraussetzung.
2. Ursachenanalyse im Top-Team
Fehlerkultur beginnt oben: durch psychologisches Verstehen, offenes Reflektieren und bewusste Vereinbarungen zu konkreten Praktiken im Führungsteam.
3. Führungsdilemma entschärfen, Macht und Verletzlichkeit
balancieren
Fehlerkultur fordert Verwundbarkeit – ein Widerspruch zur Logik von Macht. Geschützte Räume, Peer-Groups und Hierarchiebewusstsein helfen, diesen Spagat zu lösen.
4. Teams als sicherer Lernraum
Fehlerkultur funktioniert vor allem im Kleinen: in Teams mit Vertrautheit, Sicherheit und Raum für ehrliche Reflexion. Skalierung erfolgt dann durch Multiplikatoren: Lern-Erkenntnisse aus Teams (aber nur die Ergebnisse, keine Rechtfertigungen!) können in größere Runden getragen werden.
5. Kontinuierliches Feedback etablieren
Fehlerkultur braucht Feedback – nicht als Pflichtübung, sondern als verankertes Ritual im Arbeitsalltag. Dabei ganz elementar: Vor der gesunden Fehlerkultur steht das Lob.
6. Retro-Formate institutionalisieren
Agile Rituale wie Retrospektiven helfen Teams, regelmäßig aus Fehlern zu lernen – spielerisch und strukturiert zugleich.
7. Bürokratie reduzieren, Verantwortung teilen
Weniger Regelwerk, mehr Freiräume. Fehlerreflexion zuerst pragmatisch auf Team-/Projektebene verankern. Und statt Schuldige zu suchen: kollektive Lernverantwortung fördern.
8. Lebenslanges Lernen fördern – durch Nudges und Vorbilder
Micro-Learning, Gamification und ehrliche Vorbilder aus dem Leadership-Team senken Hemmschwellen und machen Mut.
9. Fehler belohnen – wie Jean-Claude Biver
Jean-Claude Biver (Ex-LVMH) belohnte offen in Führungsrunden geteilte Fehler mit 1.000 CHF Spot-Bonus. Seine Botschaft: Wer offen über Fehler spricht, treibt die Organisation voran – und verdient Anerkennung.
Andere Unternehmen heben die Fehlerkultur in sogenannten “Fuckup Nights” oder auch “Fuckup Fridays” auf eine neue Stufe. Dabei berichten Mitarbeiter und Führungskräfte von gescheiterten Projekten, um daraus gemeinsam zu lernen.
10. Lernprozesse systemisch verankern
Fehlerkultur darf keine Einzelmaßnahme bleiben. Notwendig sind Datenbanken mit KI-Analyse ("Lesson-
Learned-Databases“), Lern-Checks (integriert in Projekt-Go/No-Go-Entscheidungen) und klare Mechanismen (Präventions-Roadmaps), um Erkenntnisse dauerhaft zu sichern.
Häufig gestellte Fragen zur Fehlerkultur in Organisationen
Next Steps: Fehlerkultur aktiv gestalten
- Fehler-Fitness-Check: Wie oft spricht Ihr Team offen über gescheiterte Initiativen – ohne Schuldzuweisungen?
- Starten Sie klein: Ein "Fail-of-the-Month"-Ritual im Team (fokussiert auf Lessons Learned) hilft, Ängste abzubauen.
- Führung beginnt bei sich selbst: Fehlerkultur funktioniert nur, wenn Führungskräfte eigene Fehler sichtbar machen. Sonst bleibt es Theater.
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