
Wie erinnern wir Bilder – und wenn ja, wie viele?
Verlaufende Spuren aus Buntstift und Wasserfarbe: Scharf-unscharfe Erinnerungsschichten im Werk Sławomir Elsners
Der in Berlin tätige Künstler Sławomir Elsner schafft mit Buntstiftzeichnung, Aquarell und Skulptur Erinnerungsräume zu ganz unterschiedlichen kunsthistorischen Bezügen. Im Vorfeld seiner Ausstellung in unseren Büroräumen* haben wir ihn für ein Gespräch über Kunst und Erinnerungsschichten besucht.
Undconsorten: Lieber Sławomir, vielen Dank, dass wir Dich in Deinem Atelier besuchen dürfen. Dieser Raum direkt neben der berühmten Kantgarage war früher eine Vereinssynagoge – wie spricht das mit Dir und Deinem Werk?
Sławomir Elsner: Für mich war sofort bei der ersten Besichtigung klar, dass ich an diesem Ort arbeiten möchte. Seine Geschichte ist spannend und voller Brüche – all die Spuren sind heute noch sichtbar. Zugleich passen Lage und Größe ideal für mich – überhaupt wollte ich immer in Berlin leben und arbeiten, als Mitte zwischen Ost und West und als Brennpunkt vieler Kulturen.
&co: Wie hängen Deine Werke mit der Idee von Erinnerung und Geschichte zusammen?
SE: In meinen Arbeiten spiele ich oft mit solchen Referenzen und Erinnerungsschichten. Mir geht es dabei auch um die Frage: Wie sehen wir Bilder? Gerade wenn es um gewisse Ikonen der Kunstgeschichte geht, aber auch ganz allgemein. Wie erinnern wir dieses Gemälde, wenn wir aus dem Museum herausgehen? Habe ich das dann nur noch als Postkarte, oder als Handyfoto?
&co: Inwieweit sind Deine Arbeiten dann eigentlich eigenständige Kunstwerke?
SE: Die KunsthistorikerinAnne-Marie Bonnet schrieb über meinen Ansatz: „Was mache ich eigentlich mit den kunstgeschichtlichen Bildern? Ich kopiere sie nicht, ich interpretiere sie nicht – ich evoziere sie." Das fand ich eigentlich sehr treffend.

&co: Anne-Marie Bonnet spricht auch von einer „allgemeinen Verunsicherung“ bei der „Verständigung über Wirklichkeit und Wahrheit“ im Kontext der aktuellen Entwicklungen in Politik und Digitalmedien. Inwieweit sind das Erinnern und das Umsetzen von Geschichte in Deinen Kunstwerken auch ein Spiel mit kognitiver Verzerrung und Vorurteilen?
SE: Für mich sind ikonische Werke wie Rembrandts Porträts oder van Goghs Sonnenblumen Ausgangspunkte für ein Spiel mit Erinnerung. Meine eigenen Werke sind sehr offen, die Interpretation liegt bei den Betrachter:innen. Sie können mein Werk mit dem Original abgleichen – oder es als eigenständiges heutiges Abbild rezipieren. Die Entscheidung liegt bei ihnen.
&co: Siehst Du in Deiner Kunst auch eine Möglichkeit der Erinnerung, die über die formale Kunst hinausgeht – vielleicht im politischen oder gesellschaftlichen Kontext?
SE: Ja, auf jeden Fall. Ich sehe meine Kunst als eine Form der Erinnerung, die über den rein ästhetischen Aspekt hinausgeht. Gerade durch die Wahl bestimmter Themen und Motive können auch politische oder gesellschaftliche Kontexte mitschwingen. Ich erinnere an vergangene Ereignisse oder stelle Verbindungen zu gesellschaftlichen Entwicklungen her, die oftmals nicht direkt angesprochen werden, aber trotzdem in der Kunst reflektiert werden.
&co: Deine Arbeiten thematisieren immer wieder historische Schichten und Verdrängtes. Inwiefern hat Deine eigene Familiengeschichte – die Grenzgängerschaft zwischen Polen und Deutschland – Deinen künstlerischen Ansatz geprägt?

SE: Das spielt mit Sicherheit eine Rolle. Mein Großvater wurde in Schlesien nahe Kattowitz geboren – damals noch in Preußen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde daraus polnisches Territorium, kurz hinter der Grenze. 1939, als Deutschland Polen überfiel, wurde er als polnischer Staatsbürger ins Militär eingezogen. Zwei Jahre später: deutsche Kriegsgefangenschaft. Plötzlich hieß es: „Sie können Deutsch? Dann kämpfen Sie jetzt für die Wehrmacht.“ Gegen Ende des Krieges wechselte er dann zur Widerstandsarmee des polnischen Generals Władysław Anders. So durfte er nach Kriegsende direkt nach Hause – sein Bruder, ebenfalls in der Wehrmacht, landete hingegen in sibirischer Gefangenschaft. Als wir 1987 als Spätaussiedler nach Deutschland kamen, verweigerte der Staat meinem Vater zunächst die deutsche Staatsbürgerschaft. Begründung? Sein Vater habe ja „die Wehrmacht verraten“. Diese Überlagerungen von Identität – deutsch/polnisch, Täter/Opfer, Loyalität/Verrat – sorgen möglicherweise für eine Grundspannung in meiner Kunst. Es geht beim Arbeiten mit verschiedenen überdeckenden Schichten nicht um bloßes Dekor. Sondern vielleicht eher um ein Versteckspiel.
&co: Du bist besonders bekannt für Deine Werke mit Buntstiften. Ist das eine weit verbreitete Technik, und wie hast Du diese für Dich entwickelt?

SE: Ich habe während meinem Studium in Kassel versucht, mir einen möglichst breiten Fundus anzueignen und habe dort alle verfügbaren Werkstätten besucht. Es war mir sehr wichtig, verschiedene Optionen und Ausdrucksformen zu verstehen. So bin ich auch über einen Zeichnenlehrer zum Zeichnen gekommen und habe dann mit der Zeit meinen eigenen Stil entwickelt.
&co: Die Kontrolle über das Medium ist in Deinen Buntstiftarbeiten präsent. Welche Rolle spielt das Element „Zufall“ in Deiner Arbeit mit Aquarellen, Stichwort Frustrationstoleranz – und ist Dein Wechsel zwischen den Techniken auch ein Spiel zwischen den Themen Exzellenz und Pragmatismus?
SE: Zufall spielt im Unterbewussten sicher schon eine Rolle. Oft entstehen Ergebnisse, die ich nicht vorhersehen kann – was mir aber auch ermöglicht, kreative Impulse aufzunehmen, die ich dann weiterentwickle. Der Zufall hat eine Art „Magie“, die mich dazu anregt, das Bild weiter zu hinterfragen und zu gestalten. Ich versuche, ihn zu nutzen, um neue Perspektiven und Eindrücke zu gewinnen, auch wenn ich ein klares Ziel für das Bild habe.
&co: Wie gehst Du mit Fehlern und unerwarteten Ergebnissen in Deinen Werken um? Haben diese Fehler für Dich einen kreativen Wert?
SE: Manchmal gibt es einen Fehler, und diese Aquarelltechnik verzeiht diese Fehler nicht – und dann ist es kaputt. Etwa wenn ich durch Trocknungseffekte eine Linie an einer Stelle bekomme, wo ich sie nicht möchte – dann sortiere ich das Blatt aus. Da bin ich dann kritisch und lasse diese Fehler nicht zu.

Manchmal reicht es schon, dass sich eine Fliege auf das noch feuchte Papier setzt – deswegen habe ich auch Vorhänge vor der Eingangstür (lacht).
&co: Also Du hast in der Regel ein klares Bild, worauf Du hinausmöchtest.
SE: Ja, aber dann gibt es Motive, bei denen habe ich ein klares Bild und es gibt zufälligerweise aufgrund von Papierbeschaffenheit und Feuchtigkeit verschiedene Ebenen, die sich unkontrolliert entwickeln. Das lasse ich dann zu.
&co: Gibt es auch Fälle, wo Du gewissermaßen durch Unfälle zu unerwarteten Ergebnissen kommst, die Du Dir aneignest?
SE: Ja, wenn ein unerwarteter Effekt auftritt, wie zum Beispiel kristallartige Trocknungsstrukturen, dann versuche ich manchmal sogar, diese Entdeckungen zu verstärken, etwa indem ich noch mehr Wasser verwende. Eine gewisse Offenheit ist also durchaus Teil des kreativen Prozesses.
&co: Wie würdest Du Deine Herangehensweise an Aquarellmalerei beschreiben, und was unterscheidet sich dabei von anderen Maltechniken?
SE: Während meinem Studium bei Norbert Radermacher kam mir der Gedanke, dass ich Aquarellmalerei nicht zum bloßen Kolorieren von Flächen einsetzen möchte, sondern als eigenständiges und ganzheitliches Medium. Das gab es damals eigentlich nicht.

Ich arbeite dabei sehr schrittweise, mit vielen dünnen Farbschichten übereinander, was eine langsame, aber sehr kontrollierte Technik erfordert. Während andere Maltechniken eher auf direkten, kräftigen Aufträgen basieren, schätze ich an Aquarellen die Transparenz und das Spiel der Farben, die durch das Wasser entstehen. Das bedeutet, dass das Bild während des Malens sehr lebendig und in ständiger Entwicklung bleibt, was mir ermöglicht, mit unerwarteten Ergebnissen zu arbeiten und diese in mein Kunstwerk zu integrieren.
&co: Was steckt hinter dieser Technik und warum wendest Du sie an?
SE: Die vielen Schichten in meinen Aquarellen erzeugen Tiefe, mitunter auch Dunkelheit und eine gewisse Unschärfe, die für mich den Reiz der Technik ausmachen. Es ist fast wie eine langsame Entfaltung der Farben.
&co: Das klingt sehr aufwändig – wie viel Zeit beansprucht diese Technik?
SE: Das hängt ein bisschen von der Papierqualität ab und wie viel Wasser ich verwende. Wenn ich Glück habe, schaffe ich zwei Farbschichten pro Tag. Deshalb kann ich diese Technik auch gut mit den Buntstiftzeichnungen kombinieren: Wenn ich morgens ins Atelier komme, widme ich mich zunächst den neuen Schichten, und während diese trocknen, zeichne ich.
&co: Du bildest dasselbe Motiv häufig mehrfach unterschiedlich ab. Seriell zu arbeiten scheint für Dich generell sehr wichtig?
SE: Eigentlich nicht, die Serie bedeutet bei mir, dass ich zu einem Thema mehrere Werke mache. Allerdings habe ich zum Beispiel innerhalb der Serie Imaginary Memory, einer Arbeit in Anlehnung an Rubens Geisblattlaube, ein Motiv dann 17 Mal verarbeitet, paraphrasiert.

Oder wie hier zu sehen: die Sonnenblumen von van Gogh sind auch in zwei verschiedenen Versionen in Aquarell paraphrasiert. Verwende ich zum Beispiel bei meinen Aquarellen wenig Wasser, so ist das Resultat sehr nah an dem Bild, das ich mir vorgestellt habe. Nehme ich hingegen sehr viel Wasser, dann setzt sich das Pigment vom Binder ab und zerläuft unvorhersehbar. Das Resultat ist dann noch stärker verfremdet vom Original. Im Extrem vermischen sich die Schichten so stark, dass es am Ende nur noch eine Farbe gibt. Die Erinnerung ist dann gänzlich verwischt oder verdeckt, quasi verunmöglicht – oder erst wieder über den Kontext der Serie möglich.
&co: Wie lange hast Du für die 17 Werke in Originalgröße für Imaginary Memory benötigt?
SE: Daran habe ich insgesamt drei Jahre gearbeitet.
&co: Wow! Wie nahe bringt einen das an den Rand des Wahnsinns?
SE: (Lacht) Ich habe irgendwann versucht, Abstand zu nehmen mit den Aquarellen.
&co: In einigen Deiner Arbeiten hast Du Gold als zusätzliches Element eingesetzt. Was bedeutet es für Dich, Gold in Deine Aquarelltechnik zu integrieren?
SE: Zunächst einmal ist Gold beim Aquarellieren sehr delikat, denn jedes Mal, wenn ich Gold einsetze, lösen sich die darunterliegenden Goldpigmente – und damit jeweils die vorige Ebene – mit an. Die neue Schicht legt sich wie ein undurchdringlicher Schleier oder eine Folie über das Motiv. So wird das Gefühl erzeugt, das Dahinterliegende wird weniger konkret oder auch wichtig. Ich finde es spannend, dass es dabei dann eher um das Spüren geht und damit vielleicht um ein tastenderes und aufmerksameres Wahrnehmen.
&co: Manchmal geht das ja sogar so weit, dass man sich sogar fragt, ob überhaupt ein konkretes Motiv sichtbar ist – oder man dieses schlicht übersieht.
SE: Gerade bei der Verwendung von Metallpigment, auch Silber, kommt es vor, dass das fertige Werk von vielen Seiten so spiegelt, dass man nie das gesamte Motiv erfassen kann. Es treten dann je nach Standpunkt immer unterschiedliche Teilaspekte hervor.
&co: Hast Du auch schon beide Techniken kombiniert, die Buntstifte und das Aquarellieren?
SE: Ja, das habe ich auch gemacht, beispielsweise in einer Serie von Arbeiten aus den Jahren 2011-12, die sich mit der damaligen Flüchtlingssituation beschäftigt hat. Auch im letzten Jahr habe ich bei einem Werk so gearbeitet, das im Grunde eine Visualisierung war von einem Glitch, einem nicht gelungenen Druck. Aktuell arbeite ich auch an etwas ganz Neuem. Ich mache etwa kleine Tests mit Motiven aus einem Film, also quasi Filmstills mit der Anmutung eines kaputten Polaroids.
&co: Du hast in der Vergangenheit wirtschaftliche und kreative Entscheidungen getroffen, die Du als notwendig erachtet hast. Wie sehr hat der Kunstmarkt Deine Entscheidungen als Künstler beeinflusst, und wie siehst Du die Kunstszene in Bezug auf den Erfolg und die Konsumierbarkeit von Künstlern im heutigen wirtschaftlichen Umfeld?

SE: Der Kunstmarkt hat meine Entscheidungen sicherlich beeinflusst, aber ich versuche, mich nicht von ihm zu stark leiten zu lassen. Ich habe immer versucht, meiner künstlerischen Integrität treu zu bleiben und meine Werke nicht aus kommerziellen Gründen zu produzieren. Wenn ich mit einer Werkreihe fertig bin, dann wende ich mich neuen Dingen zu, auch wenn sich die Arbeiten sehr gut verkauft haben und vielleicht ein Galerist mehr davon verkaufen möchte. Eine Galerie habe ich so sogar tatsächlich einmal eingebüßt (lacht). Die Kunstszene heute ist in Bezug auf Erfolg und Erreichbarkeit von Künstlern sehr viel globaler und kommerzieller geworden. Der Erfolg hängt nicht nur von der Qualität der Kunst ab, sondern auch von der richtigen Vernetzung und der Fähigkeit, sich in diesem hart umkämpften Markt zu behaupten. Trotzdem ist es wichtig, dass Künstler sich nicht nur nach den Marktbedingungen richten, sondern auch die Unabhängigkeit haben, kreativ zu arbeiten und neue Wege zu gehen.
&co: Spannend, solche Momente gibt es in der Beratung auch. Wenn wir beispielsweise einem Klienten widersprechen müssen, weil wir von einem Wunsch oder einer Richtungsentscheidung nicht überzeugt sind.
SE: Als Künstler zeigt sich da bei mir tatsächlich manchmal ein intrinsischer Drang nach Freiheit, der mich mitunter kurzfristig konträr zu Marktmechanismen arbeiten lässt. Wobei sich selbst diese Arbeiten dann langfristig sehr wohl verkaufen, das ist ja immer auch eine Frage von Konjunkturen. Diese manchmal vielleicht etwas naive Haltung im Bezug auf Nachfrage ist wichtig, um sich als Künstler entwickeln zu können und glücklich zu sein mit dem, was man tut.
&co: Machst Du Dir während der Produktion der einzelnen Werke und Serien bereits Gedanken über die Anordnung in einer Ausstellung? Wie gehst Du etwa die Hängung in unserem Office an?
SE: Ich muss mir dazu im Vorfeld die Räume mehrfach ansehen. Bei Euch ist die Situation insofern besonders, dass Ihr ja bereits viele Werke unterschiedlicher Künstler ausgestellt habt. Deshalb kam mir dazu die Idee, dass ich meine Arbeiten aus verschiedenen Werkphasen nehme, so dass ein Besucher Eurer Räume nicht sofort erkennt, dass es sich um eine (homogene) Ausstellung eines Künstlers handelt.

&co: Das passt sehr gut, Du fügst Dich ein und forderst uns heraus, genau hinzuschauen und die Dinge zu hinterfragen. Wir freuen uns bereits sehr auf diese spannende Inspiration in unseren Arbeitsräumen.
Lieber Sławomir, vielen Dank für das Gespräch!
*Die Vernissage mit Werken, die diese Themen verdichten, findet am 11.09.2025 um 19 Uhr bei undconsorten (Kurfürstendamm 194, 10707 Berlin) statt.